Zentralperspektive: Raum und Tiefe

Zentralperspektive: Raum und Tiefe
Zentralperspektive: Raum und Tiefe
 
Nach Anfängen in der Antike, vor allem in der Theater- und Wandmalerei, wurde die Linearperspektive im frühen 15. Jahrhundert in Florenz von dem Künstler und Architekten Filippo Brunelleschi neu »erfunden«. Was sich bei diesen Perspektivexperimenten noch rein empirisch, aus Beobachtungen und Vergleichen mit der Realität, entwickelte, wurde um 1425 von Masaccio in dem Dreifaltigkeitsfresko in Santa Maria Novella in Florenz durchkonstruiert. Zum ersten Mal in der Geschichte der Malerei sind Figuren und Raum exakt auf den Betrachter an einem bestimmten Standort im Kirchenraum bezogen. Doch bereits mit Giotto und Duccio hatte in Italien um 1300 die Öffnung der mittelalterlichen Bildfläche zu einem Kastenraum begonnen, in den die plastisch gestalteten Figuren wie in einem frommen Krippenspiel hineingestellt wurden. In Giottos Fresken in der Oberkirche von San Francesco zu Assisi spielen die Heiligenszenen innerhalb einer geschlossenen Raumbühne, deren Versatzstücke allerdings noch nicht richtig perspektivisch wiedergeben, sondern so weit abstrahiert sind, dass sie lediglich die Erzählung begleiten und den historischen Ort angeben.
 
Während Giotto und Duccio keinen unmittelbaren Nachfolger hatten, gelang es in der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts Ambrogio Lorenzetti in Siena, einen »modernen« Systemraum zu entwerfen, in dem die Raumtiefe und die darin handelnden Personen den Sehgewohnheiten des Menschen entsprechen. Der Humanist, Architekt und Gelehrte Leon Battista Alberti schrieb dann um das Jahr 1420 die Grundregeln der Perspektive nieder, nach denen Masaccio sein Dreifaltigkeitsfresko konstruierte. Die Lehre von der Perspektive konstituierte sich bald darauf als eigene wissenschaftliche Disziplin, der die gesamte Malerei der Renaissance verpflichtet ist. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts gab es bereits in verschiedenen Städten Italiens Lehrstühle für diesen Wissenschaftszweig, was allerdings bald zu einer Dogmatisierung, vor allem in den Bereichen der Intarsienkunst und der Vedutenmalerei, führte.
 
Die einfache, linearperspektivische Konstruktion lässt sich am besten am »Glastafelverfahren« erläutern. Zwischen Betrachter und Gegenstand stellt man sich dabei eine frontparallele Glasplatte vor, die der Bildebene des Malers entspricht. Die Schnittpunkte der vom Auge des Betrachters zum Gegenstand verlaufenden Sehstrahlen mit der Projektionsebene kennzeichnen den jeweiligen Gegenstand im Bild. Parallel zur Ebene, auf der der Betrachter steht, verläuft die Horizontlinie in Augenhöhe. Auf ihr treffen Fluchtlinien im Fluchtpunkt zusammen, der dem Auge des Betrachters direkt gegenüberliegt. Im Fluchtpunkt schneiden sich alle Geraden, die in Wirklichkeit parallel vom Gegenstand in die Raumtiefe verlaufen. Künstler wie der Florentiner Paolo Uccello und Piero della Francesca aus San Sepolcro waren sich jedoch schnell der Beschränktheit der durch Alberti eingeführten Rastermethode bewusst und konstruierten eigene Systeme. Besonders Uccello war so angetan von den Möglichkeiten der Perspektivenkonstruktion, dass er im Schlaf gemurmelt haben soll: »Oh, wie süß ist die Perspektive.«
 
 Die Perspektive im Norden
 
Das Werk von Michael Pacher zeigt bereits die Kenntnis perspektivischer Konstruktionen, während die altdeutsche Malerei sonst eher mit der Bedeutungsperspektive arbeitete, bei der die Größe der Figuren im Bild ihrer Bedeutung entspricht. Albrecht Dürer setzte sich auch theoretisch mit der Zentralperspektive auseinander. Zu genaueren Konstruktionen war er aber erst nach der zweiten Italienreise, die ihn 1505-07 bis nach Florenz und Rom führte, fähig. Zur Verbesserung der Perspektivenzeichnung erfand Dürer eigene Apparate zur Konstruktion der Perspektive.
 
Wie erfindungsreich große Künstler im Norden mit den Gesetzen der Wahrnehmung und der Perspektive umzugehen wussten, zeigen schon die Bilder des Niederländers Jan van Eyck, die bei scheinbar richtiger Anwendung der Zentralperspektive wohl überlegte Abweichungen vornehmen, um ein subjektives Raum- und Realitätsempfinden besser darstellen zu können. Ein weiteres Mittel zur Raumdarstellung war aber auch die Farb- und Luftperspektive, das Verblauen und Verblassen der Farben in der Bildtiefe, womit die flämischen und besonders die holländischen Maler des 15. und 16. Jahrhunderts bei ihren Landschaftsausblicken beeindruckende Raumeffekte erzielten.
 
Die größten Erkenntnisse gewann Leonardo da Vinci, dessen kurvilineares Perspektivsystem die Verzerrungen der Wahrnehmung durch Anlage verschiedener Fluchtpunkte berücksichtigen sollte. Leonardo selbst wandte diese Perspektive zwar nie praktisch an, vor allem im 20. Jahrhundert griffen jedoch Künstler wie David Hockney und Jan Dibbets auf sie zurück.
 
Im Manierismus des 16. Jahrhunderts versuchte man Unzulänglichkeiten und Beschränkungen der Zentralperspektive zu überwinden und durch Verzerrungen von Figuren und Gegenständen, auch Anamorphosen genannt, neue Möglichkeiten der räumlichen Darstellung zu schaffen. Der Venezianer Tintoretto schuf mithilfe von Raummodellen ungewohnt moderne, vielschichtige Bildräume mit Sturzperspektiven, die das Motiv wie bei einer Kamerafahrt näher heranholen.
 
Mit der Verwendung der Untersicht erweiterte die Barockmalerei die Mittel der Perspektive; vor allem in den Deckenfresken von Kirchen und Palästen wird der Blick des Betrachters, oft über eine perspektivisch verkürzte Scheinarchitektur, in wahrhaft himmlische Höhen geführt.
 
 Das Ende der Perspektive
 
Die Künstler des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts empfanden die Linearperspektive als zu einseitig, um dem modernen Weltbild, das durch Mobilität und Geschwindigkeit gekennzeichnet ist, zu entsprechen, und wandten sich anderen Raumdarstellungen zu. Bereits Paul Cézanne versuchte durch Anlage verschiedener Blickpunkte im Bild die Beweglichkeit des Auges wiederzugeben. Die Kubisten zertrümmerten den Gegenstand und fügten seine Teile in vielansichtigen Facetten zusammen, um so die Dreidimensionalität in das Raumbild einzuführen. Mit Simultanansichten versuchten die italienischen Futuristen auch den Faktor Zeit, die Geschwindigkeit des modernen Lebens darzustellen. Giorgio De Chirico dagegen verwendete zwar wieder die zentralperspektivische Konstruktion, jedoch nicht in eindeutiger Funktion, sondern zu rätselhaften Raumfluchten gesteigert. Die abstrakte Kunst schließlich verzichtet ganz auf die Perspektive zugunsten von Flächenkomposition und Farbraum.
 
Perspektivische Konstruktion ist heute nur noch eines von vielen Mitteln, um dem Betrachter Raum und Tiefe im Bild zu suggerieren. Die Begeisterung für Albertis »geöffnetes Fenster« ist längst abgeklungen und hat einer komplexeren Betrachtungsweise Platz gemacht. Es ist sicher kein Zufall, dass die Perspektive zu einem Zeitpunkt erfunden wurde, als sich der Mensch seiner selbst bewusst wurde und als Maß aller Dinge setzte. Und es ist wiederum kein Zufall, dass die Perspektive in dem Maße an Bedeutung verlor, als der Mensch seinen Herrschaftsanspruch über die Welt zu relativieren begann.
 
Dr. Hajo Düchting

Universal-Lexikon. 2012.

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